Mittwoch, 7. Juni 2017

Wie bitte? Hochsensibel?


In den letzten Monaten bin ich öfters in Berührung gekommen mit den Begriffen „hochsensibel“ oder „HSP“.  Auf diversen Eltern-Kind-Blogs sprießen diese Artikel momentan ja wie Unkraut aus dem Boden. Ehrlich gesagt habe ich dieses Thema bislang immer links liegen lassen. Ich tat es ab als neumodisches Ding und als Spinnerei, da man allem und jedem immer neue Namen geben muss.

Letztens hatte ich im Kindergarten ein Entwicklungsgespräch über unseren Sohn. Mir wurde erklärt, er sei irgendwie anders, ein Einzelgänger und auch nicht richtig integriert. Er habe Probleme mit der Abgrenzung und seiner Identität. Auf Anraten der Erziehrinnen soll ich ihm das Buch „Das kleine Ich bin ich“ vorlesen (was ich auch direkt bestellt habe) und ihn in seinen Stärken bestärken. Mein Bauchgefühl sagte mir jedoch, irgendetwas ist da noch, ich konnte es nur nicht beschreiben. Das Gespräch ließ mir lange keine Ruhe. Immer und immer wieder habe ich die Worte reflektiert und darüber nachgedacht. Unser Sohn ist eigentlich kein Einzelgänger, im Gegenteil, zuhause sucht er immer wieder Kontakt zu seinen Geschwistern und Nachbarskindern. Warum also im Kindergarten? Da fiel mir das Thema HSP wieder ein und ich führte diverse Tests zur Feststellung einer Hochsensibilität für meinen Sohn durch. Dabei fielen mir nicht nur die Übereinstimmungen mit meinem Sohn, sondern vor allem mit unserer großen Tochter auf. Letztendlich jedoch – und das war das Erschreckendste für mich- musste ich feststellen, dass die meisten Aussagen auch auf mich zutreffen.

Als ich in einem Ergebnis folgendes las: „Sie sind mit an Gewissheit grenzender Sicherheit eine HSP. Je weiter Ihre Punkte-Anzahl über 200 liegt, umso mehr sollten Sie darauf achten, sich in kein Schneckenhaus zu verkriechen. Arbeiten Sie daran, Wege und Möglichkeiten zu finden, um in einer Ihnen angenehmen Weise Kontakt mit der Welt zu halten. Die Welt braucht Sie und Ihre Empfindsamkeit. Sie sind eine Bereicherung.“

Der letzte Satz brachte den AHA-Effekt und mich letztendlich auch zum Weinen. Erst da fiel mir auf, wie „anders“ ich mich als Kind und junge Erwachsene gefühlt habe. Ich ging nie mit auf Popkonzerte, Kirmes und Parties waren mir immer unangenehm und ausgiebige Gespräche mit vielen anderen erschöpften mich schnell. Ich brauche Auszeiten und Rückzugsmöglichkeiten, bevor ich mich wieder unter Menschen begebe. Ich grenze mich bewusst ab und werde daher von vielen Menschen mit Vorwürfen und Beleidigungen überhäuft. Ich könnte auch nie alleine reisen, aus Angst vor Neuem und Unbekanntem. Auslandserfahrungen während des Studiums waren für mich daher unmöglich. Gesänge und Musik in Kirche und Musikvereinen bringen mich immer zum Weinen, laute Sirenen der Feuerwehr und Polizei hingegen machen mich immer leicht panisch. Am meisten beeinträchtigt mich ich jedoch das unermüdliche und ständige Reflektieren meiner Handlungen gegenüber Dritten. „Mache ich es richtig? Ist es in Ordnung so? Was wird der andere sagen?“. Mimik und Gestik des Gegenübers lese ich in Sekundenschnelle ab und erkenne dessen Gefühlswelt. Ich wage auch zu behaupten, ich habe dadurch eine gute Menschenkenntnis und weiß wie der ein oder andere Typ „tickt“. Gleichzeitig jedoch fehlt mir die Fähigkeit der inneren und äußeren Abgrenzung sowie „Nein“ sagen zu können, aus Angst, den anderen zu verletzen oder überrollt zu werden.

Je mehr ich mich mit diesem Thema befasse, desto mehr fange ich an, einzelne Befindlichkeiten meiner Kinder zu verstehen.

Die Große beispielsweise war als Baby ein Schreikind. Nichts und niemand konnte sie beruhigen. Einkaufstouren, Besuche und Kinderwagen waren ein Graus für sie. Nach jedem Pekip-Besuch ein Geschrei und Geweine. Wenn sie mal endlich eingeschlafen war (meist im Tragetuch) konnte sie das kleinste Geräusch wecken. Sie fing früh an zu laufen und zu sprechen und ist heute noch hochkreativ und sprüht vor Ideen. Im Kindergarten hatte sie eine lange Eingewöhnungszeit, galt als Einzelgänger und nicht integriert und kam im Grunde erst im allerletzten Kindergartenjahr mit etwa 6 Jahren richtig an. Ihre Geruchs- Licht- und Lärmempfindlichkeit war immer schon extrem ausgeprägt. Während sie sich in der Schule immer noch gut unter Kontrolle hat, explodiert sie zuhause. Sie ist wütend, schimpft und hackt auf ihren Geschwistern herum. Bei den Hausaufgaben kann sie sich kaum konzentrieren, wenn jemand neben ihr sitzt und (normale) Geräusche verursacht. Alleine schon das Ein- und Ausatmen des Gegnübers verursacht bei ihr Wutanfälle. Ihre Kleidung muss genau passen. Ihre Frisur muss so gelegt sein, dass sie ich gut anfühlt. Es gilt: je enger je besser. Weit und wabbelig geht garnicht. Daher hat sie sich schon früh, etwa mit drei Jahren selbst angezogen und mit 6 Jahren selbst frisiert. Sie ist überaus ehrgeizig und probiert selbst unter Tränen und Wutanfällen so lange, bis es klappt. Gleichzeitig kann sie sich aber auch komplett verweigern, wenn sie sich bedrängt fühlt oder von ihren Sinnen überfordert. Sie ist sehr empathisch und leidet leicht mit anderen Wesen. Sie projiziert sogar die Gefühlswelt auf ihre Babypuppe und die Kuscheltiere. Wehe, jemand stützt sich darauf ab oder schmeißt sie etwa auf das Bett.

Ebenso der Kleine: Ebenfalls ein Schreikind. Pekip und Spielkreis? Unmöglich. Besuche, Einkäufe und Touren nur unter riesigem anschließendem Geschrei. Die ersten vier Monate habe ich mit meinem Sohn fast keine Unternehmungen unternommen. Seine Sinne waren in dieser Zeit schon durch die Anwesenheit seiner Geschwister ausgereizt. Heute noch verträgt er kaum lautere Geräusche. Vor dem Staubsauger flüchtet er ebenso wie vor der Küchenmaschine. Geruchs- und Geschmackssinn sind ebenfalls hochsensibel. Schon sehr früh äußerte er sich mit „Mmhh“ oder „riech mal“ bei Blumen, zartem Parfum oder Duschgel. Genauso aber reagiert er mit heftigem Brechreiz bei übleren Gerüchen. Ein Camembert im Kühlschrank reicht da schon. Auch er lernte früh laufen und sprechen. Er ist sehr mitfühlend und empathisch. Er leidet sehr mit, wenn andere krank oder traurig sind und stellt oft viele Fragen zu Leben und Tod sowie Gott. Sein Wissensdurst ist überaus hoch. Er untersucht, forscht und stellt viele Fragen zu Themen, die mich als Mutter staunen lassen. Gleichzeitig ist er gegenüber Dritten äußerst zurückhaltend, beobachtet viel und kommt schwer ins Spiel. Genau wie ich liest er viel in den Mimiken des Gegenübers und kann sich öffnen oder auch komplett schließen. Bei negativen Schwingungen reagiert er mit Angst, Anspannung, Rückzug und gefühlter „Kleinheit“ und Schwäche. Das macht ihn besonders im Kindergarten sehr angreifbar.

Genau wie er und meine große Tochter bin ich –im Gegensatz zu vielen anderen- nie gerne in den Kindergarten gegangen. Es war mir immer zu laut, zu viel, kaum Rückzugsmöglichkeiten oder Raum zum „Luftholen“ und Besinnen. Ich habe mich immer gefragt, warum das so ist….vielleicht habe ich jetzt die Antwort gefunden. 
Danke fürs Zuhören.